Als wär's das wahre Leben
Sie haben alle ein Handicap, die Schauspieler des "total verrückten Theaters" RAMBA ZAMBA in Berlin - etwa das Down-Syndrom. Das macht ihnen den Alltag oft zur Qual - ihre Kunst aber wild und poetisch
„Der Mond schlägt gern mal Purzelbaum. Zur Entspannung gewissermaßen. Er hat nämlich nicht bloß zu leuchten, er muss auch als Unterweltarbeiter knechten, und das nicht zu knapp. Weil die Eurydiken faul sind, schlampig, sexy, verwöhnt und noch dazu auf Selbstverwirklichungstrip. Kaum haben sie sich selbst ins Jenseits befördert, weil sie keine Lust mehr hatten, bloß die Frau an Orpheus' Seite zu sein, da flirten sie schon mit Hades und sonnen sich im Mondschein. Denn paradiesisch ist es in der Unterwelt, fantastisch und bizarr wie im Traum. Da fließt Champagner in Strömen, singt die Callas von irgendwoher, und Hades ist schön wie Casanova. Des Gedankens Blässe, Moral, Logik, Vernunft - pfeif drauf. Hier herrscht das Lustprinzip, die ganz große Oper, und seinen Körper, diesen schweren, unförmigen, lästigen Sack, den gibt man gleich an der Garderobe ab.
Nie mehr Diät!", jubelt Eurydike eins, "Nie mehr Pfennigabsätze!", Eurydike zwei, "Nie mehr Friseur, Tabletten, duschen, Anfälle, Hühneraugen!", die anderen. Sieben sind es im Ganzen (wie es auch Orpheus mehrfach gibt), eine divenhafter als die andere. Aus riesigen Augen werfen sie rätselhaft starre Blicke, ihre maskenhaften Gesichter sind weiß geschminkt, ihre Kleider ein Stoff- und Farbenrausch, ihre Leidenschaften groß, die Alltagsgefühle wie bei jedermann klein. Welches war der schönste Selbstmord - 50 Tabletten, mit knallroten Lippen aufs Bett gelegt, "und dann war ich tot"? In der Badewanne die Pulsadern aufgeschnitten, den Fön angestellt, "und ex"? Gashahn aufgedreht, Entspannungsmusik aufgelegt, Zigarette angezündet, "wwwomm"?
Aber wie sie noch eifern, welche es denn nun am besten machte, fängt die mit dem spitzen hohen Hut an zu singen. Steht einfach da, im gestreiften Kimono mit hängenden Armen, Bein neben Bein, und singt ganz zart, ganz leise, süß und beseelt, wie sie vielleicht plötzlich verschwinden wird, "weil die Luft nicht mehr reicht, weil die Luft nicht mehr reicht und nicht aufzufinden ist die Leich". Eine kleine, engelsgleiche Melodie, die in Richtung des Bühnenmondes verweht.
Selten hat man ein Publikum so still gesehen. Zaubersekunden. Theaterglück. Einer jener raren Momente, in denen, den Zuschauer förmlich anspringend, Ur-Menschliches aufblitzt, Einsamkeit, Verlassenheit, Verletzlichkeit - die Condition humaine, wahr und bar jeden Schutzes.
Die Zauber-Schauspielerin, der dies gelang, jene Eurydike mit großen Augen und spitzem Hut, heißt bürgerlich Anke, ist 27 und spricht jenseits der Bühne kaum je ein Wort. Weil ihr infolge eines Geburtsfehlers die Wörter so stockend und schwer kommen, dass sie längst aufgegeben hat, nach ihnen zu suchen. Doch wenn sie spielt und singen darf, dann stellt sich, als sei nichts, die widerspenstige Sprache ein, einfach so, ganz von allein.
Sie haben alle irgendein Handicap, die Schauspieler des Berliner RambaZamba Theaters. Ein Handicap, das ihnen den Alltag nicht selten zur Qual macht, und darum spielen sie auf der Bühne, als ginge es um ihr Leben. Dass sie anders sind als die anderen, macht ihre Kunst so unmittelbar, so direkt, poetisch und umwerfend spontan.
Moritz Höhne, 1975 mit dem Down-Syndrom zur Welt gekommen und heute einer der Stars des Theaters, ist zu verdanken, dass es RambaZamba überhaupt gibt. Als Moritz 16 war, beschlossen seine Eltern, die Schauspielerin und Theaterwissenschaftlerin Gisela Höhne und Klaus Erforth, der bis 1989 Regisseur am Deutschen Theater gewesen war, eine eigene Bühne zu gründen - für Moritz und Leute wie ihn. Seitdem hat das "total verrückte Theater" RambaZamba mit Sitz in der Kulturbrauerei am Prenzlauer Berg sieben Stücke und zwei Revuen produziert; es gastiert im In- und Ausland, wird von der Presse gefeiert, heimst Preise ein.
"Orpheus ohne Echo" ist die jüngste Produktion von Theaterleiterin Höhne und die erste Oper, die RambaZamba aufführt. Wie alle Stücke der Truppe wurde auch dies - eine Variation des berühmten antiken Orpheus-und-Eurydike-Stoffes - von Schauspielern und der Regisseurin gemeinsam entwickelt, innerhalb eines Jahres. "Wir nähern uns den Stücken langsam über Themen und Ideen", sagt Gisela Höhne, "über konkrete kleine Szenen und Spiele, die gefühlsmäßige Eindrücke und Ablagerungen schaffen, mit denen wir weiterarbeiten."
Die Schauspieler von RambaZamba nehmen sich die Freiheit, anders als andere zu arbeiten. Sie lassen sich die Zeit, die sie brauchen, nehmen mehr nebenbei auf, zerstreuter, assoziativer, intuitiver, über Bilder, Gefühle, mit umherspringender Fantasie. Von Behinderung handeln ihre Stücke nie, eher von Außenseitern, Misfits, die nicht in die Gesellschaft passen, von Liebe und Tod, Mann und Frau, dem Recht darauf, wild zu sein. Da kennen die RambaZambas sich aus, darauf reagieren sie, als sei's ein Stück von ihnen selbst.
Überhaupt - was sitzt, das sitzt, für immer. Nicht nur, dass das Theater Spielwochenende für Spielwochenende mühelos ein anderes Repertoirestück aus dem Hut zaubern kann - mittlerweile verfügt es auch über echte Könner. Joachim Neumann zum Beispiel, der vor zehn Jahren eher zufällig zur Truppe stieß. "Sozial gestört", versteinert, verstummt. Schlug zu, wenn man bloß in seine Nähe kam. Joachims ("Ick war immer schon 'n Reisender jewesen") Karriere: gewohnheitsmäßig prügelnder Vater, geschlossene Psychiatrie, nachdem er irgendwann zurückgeschlagen hatte, Zwangsjacke, Lederschlingen, verschlossene Türen, die ihm nicht standhielten, zahlreiche, sämtlich scheiternde Therapieversuche, am Ende die Straße. Es dauerte, bis Joachim taute. Bis er Bühne und Leben getrennt halten konnte. Nicht gleich losschlug, wenn man ihm einen Stock in die Hand gab. Bis er lesen lernen wollte, "damit mir keener mehr die Rollen vorquatschen muss". Und schließlich zum Star wurde, der von Kafkas "Verwandlung" über "Woyzeck" bis zu "Orpheus" immer die Hauptrollen spielt.
Oder Jennifer, 29, mit dem Down-Syndrom, die tagsüber im Cafe Schwarze Villa in Steglitz kellnert und am Wochenende eine hinreißend komische, noch aus der Unterwelt fürsorgliche Eurydike gibt. "Hallo, Orpheus, ich bin's!", gurrt sie am Handy, "dein Essen ist im Kühlschrank, dein Anzug in der Reinigung. Ich bin umgezogen. Ins Nirgendwo. Vielleicht tot. Such mich nicht."
Der 40-jährige Hannes, dem sie als Kind einen riesigen Tumor aus dem Kopf operierten. Seitdem ist er Epileptiker, und die schweren Medikamente reißen ihm nicht selten den Boden weg unter den Füßen. Aber den Hades, den spielt kein Zweiter so wortgewaltig, frauen- und opernsüchtig wie er.
Oder Nele, 19, die Tochter der Schauspielerin Angela Winkler, die eine Röhre hat, als könnte sie Berge versetzen, und komisch und tragisch sein kann, beides zugleich.
Und der 35-jährige Rene, der - "muss ick mal rechnen" - seit 1991 dabei ist und in "Orpheus" souverän den Fährmann Acheron gibt. Tagsüber malocht er in einem Krankenhaus in Berlin-Mitte, "Reinijungskraft mit Rückenschmerzen". Seine Chefin und seine Eltern, sagt er, verstehen ihn nicht, "bei denen heißt es bloß immer: Dableiben, Pumpe, Feierabend". Am liebsten würde er nicht nur zum Theaterspielen in die Kulturbrauerei kommen, sondern für immer.
"Orpheus ohne Echo" - großes Finale. Hades hat zur Versöhnung geblasen ("Schließlich sind wir in der Oper"), Unter- und Oberwelt, Orpheus und Eurydike sind in Liebe und Frieden wiedervereint. Und als im Pferdestall der Kulturbrauerei der Applaus aufbraust, da zeigen sie alle noch einmal, was in ihnen steckt - steppen, tanzen, singen, geigen, jeder mit seiner eigenen Nummer, hingebungsvoll und urkomödiantisch.
Kinder der Sonne" nannten die alten Chinesen Menschen wie sie.
Quelle:STERN, Ausgabe:52, Seite:186, Autor/in:Christine Claussen